Aussagepsychologisches Gutachten

Im Sexualstrafrecht ist die Glaubhaftigkeit der Aussagen von Beschuldigten und Zeugen stets von immenser Bedeutung. In den meisten Fällen in diesem Rechtsbereich gibt es keine Zeugen für die eigentliche Tathandlung. In der Regel wird der Beschuldigte durch einen einzigen Zeugen, der zugleich der Geschädigte ist, belastet.

Dies kann auch zu folgender Situation führen: Eine verlassende Ehefrau oder Kollegin möchte dem Beschuldigten „eins auswischen“. Sie behauptet einen sexuellen Missbrauch oder sogar eine Vergewaltigung. Der Beschuldigte bestreitet.

In diesen Situationen steht das Gericht vor der schwierigen Frage: Wer hat Recht?

In solchen Verfahren wird häufig ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt: Sagt die angeblich Geschädigte die Wahrheit oder sind ihre Aussagen nicht schlüssig, lügt sie möglicherweise?

Auch die Aussagen des Beschuldigten sind für den Rechtsanwalt von höchstem Interesse. Es kommt vor den Landgerichten immer wieder zu Situationen, in denen der Beschuldigte die Tat zwar bestreitet, der Strafrichter bzw. die Strafkammer jedoch davon ausgeht, dass er nicht die Wahrheit sagt.

Es kommt sogar zu Situationen, in denen das Gericht aufgrund des sonstigen Verhaltens des Beschuldigten von einem Geständnis ausgeht.

Mit einem solchen Fall hat sich der BGH Ende 2019 beschäftigt (BGH 20.11.2019, 2 StR 467/19):

Der Angeklagte hatte die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs und der Vergewaltigung ausdrücklich bestritten.

Das Gericht nahm jedoch gleichwohl ein Geständnis an und begründete dies mit dem nonverbalen Verhalten des Angeklagten, d. h. mit seiner Mimik und Gestik.

Der Angeklagte hatte während des Berichts der aussagepsychologischen Gutachterin über die Angaben der Geschädigten bzw. Zeugin teilweise „versonnen gelächelt“, „zustimmend genickt“ und Teile des Berichts teilweise durch ein geäußertes „Ja“ bestätigt.

Darin sah das Gericht ein Geständnis.

Der BGH warf dem Landgericht nach der erfolgreichen Revision des Rechtsanwaltes für Strafrecht jedoch vor, dass es nicht berücksichtigt hatte, dass der Angeklagte an einer geistigen Behinderung leidet (leichte Intelligenzminderung) und seine Mimik daher nicht ohne weiteres als Geständnis verwertet werden darf.

Zwar sei es grundsätzlich möglich, das nonverbale Verhalten des Angeklagten zu verwerten. Voraussetzung sei jedoch, dass es eindeutig und erheblich sei und dass das Gericht durch die Bewertung einer spontanen, unklaren Körpersprache, das Schweigerecht des Angeklagten nicht unterläuft.

Im hier geschilderten Fall hatte das zunächst zuständige Gericht ausgeführt, bei dem Bericht der Sachverständigen habe der Angeklagte „in Erinnerungen geschwelgt“. Diese Vermutung wurde jedoch nicht begründet.

Die Möglichkeit, dass der geistig behinderte Angeklagte auch andere Gründe für den „versonnenen Blick“ gehabt haben könnte, wurde vom LG nicht erörtert.

Weiterhin warf der BGH dem erstinstanzlich zuständigen LG vor, dass es die Angaben der Sachverständigen nicht hinreichend reflektiert habe. Das Gericht hatte lediglich ausgeführt, dass es sich den Ausführungen der Sachverständigen nach eigener kritischer Würdigung anschließe. Dabei handelt es sich jedoch um einen Textbaustein. Die Urteilsbegründung ließ im Weiteren nicht erkennen, dass das Gericht tatsächlich die Angaben der Gutachterin überprüft hat.

Der BGH führte aus, es sei nicht Aufgabe des Sachverständigen, darüber zu befinden, ob die Aussage der Zeugin wahr sei oder nicht. Vielmehr solle das Gutachten nur dem Gericht die erforderliche Sachkunde vermitteln. Das Gericht müsse dann selber feststellen, ob die Zeugin glaubwürdig sei oder eben nicht. Dies müsse zudem begründet werden.

Diese Entscheidung ist hochinteressant:

Sie zeigt zum einen, dass die Gerichte es sich im Strafrecht nicht zu leicht machen dürfen, indem sie den Beschuldigten einfach verurteilen, weil sie ihn eben verurteilen möchten. Das Gericht kann nicht einfach annehmen, der Angeklagte habe gelächelt und genickt und habe dadurch die Vorwürfe doch bestätigt, obwohl er im Übrigen geschwiegen habe.

Die Entscheidung zeigt zum anderen, dass der vom Anwalt oft erteilte Ratschlag, im Gerichtsverfahren keine Mimik zu zeigen, nicht zu lächeln etc, in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden kann: Die Gerichte können bei einem schweigenden Angeklagten auch aus einem Lächeln oder einem Kopfschütteln Rückschlüsse ziehen. Im Strafrecht ist daher das gesamte Auftreten im Prozess entscheidend und nicht nur das, was der Angeklagte und der Anwalt sagen.